Jürgen Bosse - Photographie

Die Pinholes von Jürgen Bosse sind gleichermaßen eine Meditation und Reflexion über das Verhältnis von Raum und Zeit, Anwesenheit und Abwesenheit, Stillstand und Bewegung sowie Mensch und Natur/Landschaft. Wie wirken diese Momente zusammen und betreiben dabei „Stoffwechsel mit der Wirklichkeit“ (Gottfried Boehm)? 

Und wie (un-)wirklich sind eigentlich die in verschiedenen Serien vorliegenden Landschaftsbilder, welche einen Schwerpunkt in Bosses künstlerischer Arbeit markieren?

Die programmatische Entscheidung für eine Lochkamera ist augenscheinlich kein nostalgischer Reflex, der auf eine zunehmend hypertechnologisierte und überästhetisierte Medien-/Kunstwelt reagiert. Ebenso wenig geht es Bosse darum, vordergründig eine neue oder weitere Ästhetik der Einfachheit zu postulieren. Stattdessen knüpft der Künstler spielerisch-reflexiv an eine Technik an, die eine Jahrhunderte alte folgenreiche Ästhetikgeschichte und damit verbundene Bild-Diskurstradition aufweist und als (horizontaler) Resonanzraum subtil in die Wahrnehmung seiner Bilder miteinfließt, wenn sich die Betrachter darauf einlassen.  

Obwohl die Landschaftsbilder ikonografisch auf romantische Positionen verweisen, wie sie z.B. von David Caspar Friedrich und von William Turner vertreten wurden, wobei mit der Vorliebe für eine bewusste kompositorische Offenheit, die mit der wiederholt wahrnehmbaren Unbegrenztheit der Landschaft korreliert, auch grundsätzliche Analogien im Bildaufbau ins Auge fallen, wird deutlich, dass sich Bosse signifikant von diesen Traditionslinien absetzt. Tendenzen wie sentimentale Verklärungen, traumhafte Überhöhungen oder Idealisierungen der Landschaften werden radikal ausgeblendet. 

Vielmehr verfolgt der Fotograf eine visuelle Ökonomie, die betont nüchtern auftritt, sich zurückhält und eine spezifische relationale Ästhetik begründet, die mit den Spannungsverhältnissen von Natürlichkeit und Künstlichkeit sowie Schärfe und Unschärfe spielt. 

Unmittelbar damit zusammen spielt noch eine weitere Spannungsrelation, die sich zwischen dem Vorder- und Hintergrund der Bilder entlädt und die Betrachter dazu einlädt in eigener Blickregie die Bildflächen und Bildräume zu vermessen.

Dabei kommt es zu einem interessanten Paradox, das durch die Technik der Lochkamera begründet und von Bosse in der weiteren Bildbearbeitung zugespitzt wird. Einerseits tendieren die Landschaften durch die gleichmäßig über das Bild verteilte Schärfentiefe dazu, in einer (fast wie gemalten) Fläche aufzugehen, wobei sich der Vorder- und Hintergrund verflüssigen bzw. miteinander zu fusionieren scheinen, indem beide gleich unscharf auftreten. 

Andererseits wird aber auch eine visuelle Gegenbewegung spürbar, die eine beeindruckende Tiefenwirkung hervorruft, indem sich Räume in den Bildern öffnen, welche den Vorder- und Hintergrund auseinanderziehen. 

Diese Wirkung resultiert zunächst aus der Wahl der Motive, da Bosse immer wieder versucht in die Tiefe der Landschaften vorzustoßen, indem er die Vorräume des zumeist weit zurückliegenden Horizonts schrittweise auslotet und damit die Betrachter an der Weite des (Bild-)Raums teil haben lässt - ohne ihnen dabei bestimmte Orte/Räume vorzugeben bzw. die Betrachter zu „steuern“.

Entsprechend fangen die Landschaftsbilder viel Raum ein, der besonders in größeren Bildformaten seine Kraft entfaltet und gerade hier zur Ruhe kommt.

Die Tiefenwirkung und das sich dadurch einstellende ausgewogene Raumgefühl wird in der Bildkomposition dadurch potenziert, dass der Betrachter bis zum Horizont, der wiederholt an der Nahtstelle von Meer und Himmel aufscheint, analog zur langen Belichtungszeit eine längere Wegstrecke vor sich hat – obwohl diese auf den ersten Blick ziemlich kurz und direkt erscheint. Und genau in dieser Seherfahrung, die dem Rezipienten schrittweise bewusst macht, dass die Räume auch eine „zeitliche Tiefe“ (Bernhard Waldenfels) haben, in der sich Spuren ablagern können, liegt eine entscheidende Faszination. 

Die Spuren, ob von der Natur selbst oder vom Menschen erzeugt, der mit baulichen Maßnahmen in die natürliche Landschaft eingreift oder nur darin verweilt, werden weder effektvoll inszeniert noch vom Künstler kommentiert oder erklärt. Sie bleiben vielmehr offen, zu entdecken.

So fällt in diesem Zusammenhang auch auf, dass der Mensch in den zunächst „leer“ erscheinenden Landschaftsbildern oftmals abwesend oder aufgrund seiner Entfernung nur vage erkennbar ist - und gerade deswegen umso präsenter ist - auch weil der Betrachter so dessen Platz einnehmen kann.

Bosses Landschaftsbilder „erzählen“ bewusst nicht, bleiben bei bzw. für sich, bieten aber Freiräume an, die leise, zum Teil auch atmosphärisch gefärbte Assoziationen zulassen können, die sich aus den festgehaltenen Augenblicken heraus kristallisieren. Wenn diese fixierten Augenblicke in Bewegung geraten - wie zum Beispiel Menschen, die am Strand entlang gehen, Wellen, die einen Steg überspülen oder Palmenblätter, die vom Wind geschüttelt werden – beginnt zunächst die Bildschärfe zu zittern, sich zu verwischen. Diese Art von Dichteverlust kann jedoch erstaunlicherweise auch die Konzentration in der Bildwahrnehmung schärfen, indem ein Zeit-Raum-Reservoir im Bildgeschehen entsteht, welches das Vorgeschehen und das Umfeld des Ereignisses speichert. Im Rahmen dieser performativen/sequenzartigen Bildwerdungsprozesse, an denen die Betrachter aktiv beteiligt werden, indem sie in eine Auseinandersetzung zwischen Präsenz und Absenz sowie (Un-)Beweglichkeit verwickelt werden, zersplittert die Augenblicksaufnahme in verschiedene Bildeindrücke.

In diese Richtung zielen auch Überlegungen von Gottfried Boehm, der an eine Theorie von Max Imdahl anknüpft: „Das sehende Sehen wohnt der Entstehung des Gesehenen und Sehenden bei, die im Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens mit auf dem Spiel steht. Dem Sehereignis entspricht ein Bildereignis, das nicht bloß sichtbar macht, was zuvor hier, dort, anderswo oder an sich schon sichtbar ist, sondern was unter neuentstehenden Bedingungen zugleich sichtbar und unsichtbar wird.“

Die Pinholes von Jürgen Bosse laden weniger dazu ein, Landschaften wiederzuerkennen oder Neues darin zu entdecken, sondern motivieren vielmehr dazu, diese neu zu sehen.

Eine meditative Reise, in deren Verlauf die Augen zu denken beginnen, wie ich finde.


Dr. Stefan Tigges, Kultur- und Theaterwissenschaftler

Berlin, im Januar 2015